Offener Brief an EU-Kommission: Keine Vorratsdatenspeicherung in der EU!

Verbindungsdaten aller Bürger*innen sollen ohne Anlass und lückenlos gespeichert werden. Das jedenfalls fänden Deutschland, andere Länder der EU und auch die EU-Kommission ziemlich gut. Immer wieder gibt es neue Anläufe zur Einführung einer Vorratsdatenspeicherung und immer wieder und wieder wird festgestellt, dass eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung nicht legal ist (BVerfG 2010, EuGH 2014, EuGH 2016, OVG Münster 2017). Mehr als 40 Nichtregierungsorganisationen und Verbände finden diese Speicherwut gar nicht gut und fordern anlässlich der heutigen Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union in einem offenen Brief ein EU-weites Verbot von anlassloser Telekommunikations-Überwachung. Es folgt eine Übersetzung des Briefs. Das Original ist hier zu finden.

Sehr geehrte Frau Ylva Johansson, EU-Kommissarin für Inneres;
sehr geehrter Herr Thierry Breton, EU-Kommissar für den Binnenmarkt;
sehr geehrter Herr Didier Reynders, EU-Justizkommissar und
sehr geehrte Frau Margrethe Vestager, EU-Kommissarin für Wettbewerb und Digitales

Wir sind zutiefst beunruhigt über Erklärungen, dass die Kommission beabsichtigt, die Notwendigkeit weiterer Maßnahmen zur Vorratsspeicherung von Kommunikationsdaten zu prüfen, sobald die Urteile in noch ausstehenden Fällen ergangen sind. Am 9. Dezember 2019 sagte Kommissarin Johansson: „Ich denke schon, dass wir ein Gesetz für die Vorratsdatenspeicherung brauchen“. Eine Studie über „mögliche Lösungen für die Vorratsspeicherung von Daten“ wurde in Auftrag gegeben. Die deutsche Grundrechts- und Datenschutzorganisation Digitalcourage hält das Design der Studie für voreingenommen, da es die Gefahren der Vorratsdatenspeicherung in der Telekommunikation nicht berücksichtigt.

Die umfassende und anlasslose Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten ist das am stärksten in die Privatsphäre eingreifende Instrument und möglicherweise die unbeliebteste Überwachungsmaßnahme, die jemals von der EU verabschiedet wurde. Die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung schrieb die umfassende Erfassung sensibler Daten zu sozialen Kontakten (einschließlich Geschäftskontakten), Bewegungsverhalten und Privatleben (z.B. Kontakte mit Ärzten, Rechtsanwälten, Betriebsräten, Psychologen, Notrufnummern usw.) von 500 Millionen Europäerinnen und Europäern vor, die keiner Straftat verdächtigt werden.

In seinem Urteil vom 8. April 2014 setzte der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Richtlinie 2006/24 zur Vorratsdatenspeicherung außer Kraft, die Telekommunikationsunternehmen verpflichtet hatte, Daten über die Kommunikation aller ihrer Kunden zu speichern. Sie ist aber in verschiedenen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union noch immer in nationales Recht umgesetzt.

Wir sind der Überzeugung, dass eine derartig invasive Überwachung der gesamten Bevölkerung nicht akzeptabel ist. Mit einer Regelung zur Datenspeicherung werden sensible Informationen zu sozialen Kontakten (einschließlich Geschäftskontakten), Bewegungsverhalten und das Privatleben (z.B. Kontakte mit Ärzten, Rechtsanwälten, Betriebsräten, Psychologen, Helplines usw.) von Millionen von Europäerinnen und Europäern gesammelt, ohne Vorliegen von individuellen Verdachtsmomenten. Die umfassende und anlasslose Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten hat sich in vielen Bereichen der Gesellschaft als schädlich erwiesen. Die Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten untergräbt das Berufsgeheimnis, schafft die ständige Gefahr von Datenverlusten und Datenmissbrauch und hält die Bürger davon ab, vertrauliche Kommunikation über elektronische Netze zu führen. Sie untergräbt den Schutz journalistischer Quellen und schwächt damit die Pressefreiheit. Insgesamt beschädigt sie die Grundlagen unserer offenen und demokratischen Gesellschaft. Da es in den meisten Ländern kein finanzielles Entschädigungssystem gibt, müssen die enormen Kosten einer Regelung zur Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten von den Tausenden betroffenen Telekommunikationsanbietern getragen werden. Dies führt zu Preiserhöhungen und zur Einstellung von Diensten, wodurch die Verbraucher indirekt belastet werden.

Studien belegen, dass bereits die ohne Vorratsdatenspeicherung verfügbaren Kommunikationsdaten zur effektiven Aufklärung von Straftaten ausreichen. Eine umfassende Vorratsdatenspeicherung hat sich in vielen Staaten Europas als überflüssig, schädlich oder sogar verfassungswidrig erwiesen, z.B. in Österreich, Belgien, Deutschland, Griechenland, Rumänien und Schweden. Diese Staaten verfolgen die Kriminalität ebenso effektiv mit der gezielten Sammlung von Verkehrsdaten, die für individuelle Ermittlungen benötigt werden, wie z.B. den im Übereinkommen des Europarats über Computerkriminalität vereinbarte Rechtsrahmen zur Sicherung gespeicherter Daten.

Wir argumentieren, dass das aktuelle deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung nicht als Vorbild für die EU angesehen werden darf. Erstens sind verschiedene Verfassungsbeschwerden gegen das Gesetz anhängig und zweitens verfolgt das deutsche Gesetz den gleichen grundsätzlich riskanten Ansatz, Daten über alle Bürgerinnen und Bürger kontinuierlich und ohne Rücksicht auf individuellen Verdacht, Bedrohung oder Bedarf zu erheben.

Es gibt keinen Beweis dafür, dass die Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten einen verbesserten Schutz vor Kriminalität bietet. Auf der anderen Seite sehen wir, dass sie Milliarden von Euro kostet, die Privatsphäre Unschuldiger gefährdet, vertrauliche Kommunikation beeinträchtigt und den Weg für eine immer größere Massenanhäufung von Informationen über die gesamte Bevölkerung ebnet. Als Vertreter der Bürgerinnen und Bürger, der Medien, der Fachleute und der Industrie lehnen wir gemeinsam die generelle Speicherung von Telekommunikationsdaten ab. Wir fordern Sie dringend auf, keine Versuche zur Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten zu unternehmen. Gleichzeitig appellieren wir an Sie, Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, um sicherzustellen, dass die nationalen Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung in allen betroffenen Mitgliedsstaaten aufgehoben werden. Darüber hinaus rufen wir Sie dazu auf, sich für ein EU-weites Verbot genereller und anlassloser Vorratsdatenspeicherung einzusetzen, die die Aktivitäten von Menschen erfassen. Wir fordern Sie auf, den europäischen Weg weiterzuentwickeln mit dem Ziel einer EU, die frei von invasiver Überwachung ist. Wir würden uns freuen, die Angelegenheit mit Ihnen persönlich zu besprechen, zu einem für Sie passenden Termin.

Mit freundlichen Grüßen
(siehe hier für eine Liste der unterzeichnenden Organisationen)

Vorerst keine Vorratsdatenspeicherung für alle

Vor einer Woche hatte das Oberverwaltungsgericht NRW entschieden, dass der Provider Spacenet vorerst nicht speichern muss (klick). Daraufhin hat die Bundesnetzagentur mitgeteilt, dass die Vorratsdatenspeicherung vorerst für alle ausgesetzt wird (klick), es gibt also keine Speicherpflicht mehr. Das heißt aber noch nicht, dass die VDS gekippt ist. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) plant nun eine Reihe von Klagen, damit die VDS auch tatsächlich abgeschafft wird. Die GFF ist dazu auf Freiwillige angewiesen. Wer unterstützen möchte, kann dies hier tun!

Vorerst keine Vorratsdatenspeicherung für Freifunk

Freifunk muss die Vorratsdatenspeicherung vorerst nicht umsetzen. Weitere Infos dazu gibt es beim Freifunk Rheinland: https://www.freifunk-rheinland.net/2017/06/19/vds-ab-juli-nicht-fuer-freifunk-und-den-ffrl/.

Wir lehnen die Vorratsdatenspeicherung weiterhin ab. Die Verfassungsbeschwerde des Digitalcourage e.V. kann hier unterstützt werden.